Leben wir in der Matrix?

Leben wir in der Matrix?

Photo by Stefano Pollio on Unsplash

Erschaffen wir die Wirklichkeit?

Es war Neujahr, als der Wecker durch das Schlafzimmer schrillte. Der Mann, der bis gerade noch im Tiefschlaf lag, hieß Karl Potato. Er lag allein im Bett und das war auch besser so. Hätte jemand neben ihm gelegen, wäre dieser Jemand wohl erschlagen worden. Mit einer Handbewegung, die der eines Karatemeisters glich, schnitt er durch die Luft. Richtung Nachttisch, knapp am Lampenschirm vorbei, schlug die Handkante im Smartphone ein. Es lag auf der Kante des Tisches und der Schlag erwischte es so ungünstig, dass es wie ein Frosch durch die Luft sprang, lediglich gehalten vom Ladekabel. Für einen Augenblick wirkte es wie ein Drachen am Strand, der in der Luft schwebte. Dann verwehte der Augenblick und der Drachen bzw. das Smartphone fiel zu Boden, wie eine im Flug verstorbene Taube.

Karl Potato, der seinen Nachnamen einem Kartoffelbauern aus dem Jahre 1823 verdankte, stieg aus dem Bett, stolperte über seine weißen Häschen-Hausschlappen, drehte sich und stieß mit dem Schienbein eine Kerbe in die Bettkante. Tiefe Furchen durchgruben das sonst so faltenfreie Gesicht. Er drehte sich erneut, bückte sich und griff nach dem Smartphone. Schlummermodus! Dann stieg er wieder ins Bett.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte und manchmal sagt ein Wort mehr als tausend Bilder und manchmal sollte man einfach nur die Schnauze halten, dachte er und hielt sich dabei sein Schienbein. Er wusste selbst nicht, warum er ausgerechnet jetzt folgende Frage laut aussprach:

„Leben wir in der Matrix?“

Wirklichkeit war da draußen. Er konnte sie sehen, sie spüren. Aber wie war das mit dem Schmerz im Schienbein. Dieser Schmerz war ganz sicher Wirklichkeit. Wo war er denn vor dem Stoß? Hatte er sich im Schienbein oder in der Bettkante versteckt? Wo warst du, Schmerz?

Er rieb sich ein paar Schuppen von der Stirn. Der Schmerz war ganz klar in ihm. Nicht in der Bettkante, auch nicht im Schienbein. Der Schmerz war in seinem Kopf.

Schatten der Wirklichkeit

Na toll, er war wach. Draußen war es hell. Die weißen Rollos hatten die Verdunklungsstärke von Milchglas. Auf ihnen tanzten die Schatten der Bäume. Aber waren das Bäume? Einer der Schatten sah aus wie ein Mensch. Ein anderer wie ein Uhrzeiger. Wieder ein anderer wie ein Hähnchenflügel!

Vor knapp 2400 Jahren muss sich der Philosoph Platon etwas Ähnliches gedacht haben, als er sich das Höhlengleichnis ausdachte. Es geht so: Ein paar Menschen sitzen in einer Höhle und starren auf eine Wand. Über der Wand wandern Schatten. Was die Menschen nicht wissen: Hinter ihnen ist die Wirklichkeit. Von dieser Wirklichkeit sehen sie aber nur die Umrisse. Nicht weil sie dumm sind, sondern weil sie nicht anders können. Platon vermutete, dass alle Menschen nur die Schatten der Wirklichkeit sehen. Sozusagen die Ränder der Matrix.

Karl presste seinen Kopf tiefer in das Kopfkissen. Kann man an den Schatten nicht doch irgendwie erkennen, was dahinter ist? Dahinter ist ein Baum, das wusste er. Aber er wusste auch, dass er das nur wusste, weil er den Baum schon einmal gesehen hatte, ohne das Rollo dazwischen. Man kann den Baum erkennen, weil man weiß, wie ein Baum aussieht und welche Schatten er wirft. Mit dieser Erkenntnis drehte er sich um. Zufrieden mit sich und der Welt. Doch lange hielt es nicht.

Angenommen, er hätte noch nie einen Baum gesehen – so absurd das klingen mag – woher sollte er dann wissen, wie ein Baum aussieht und welche Schatten er wirft. Vielleicht war es gar nicht so absurd. Schließlich war auch er mal ein Kind, ein kleiner Junge, der irgendwann in seinem Leben zum ersten Mal ein Baum gesehen haben musste. Und was war das dann, was er sah? War der Baum Wirklichkeit oder war er nur ein Schatten der Wirklichkeit?

Immanuel Kant würde Karls Rollo als phänomenale Welt bezeichnen. Die Welt der Schatten. Phänomenal, nicht weil sie so großartig ist, sondern weil wir das, was wir sehen, was wir hören, was wir schmecken und was wir fühlen eben nur sehen, hören, schmecken und fühlen. Es sind Phänomene. Wir nehmen die Welt durch unsere Sinne wahr. Über unsere Augen, unsere Ohren, unsere Haut und unseren Verstand. Wir nehmen die Welt nicht unmittelbar wahr. Sie nimmt einen Umweg über unsere Sinne. Und die können halt nur Schatten.

Die Matrix

In den Neurowissenschaften „sieht“ man es ähnlich. Wir bilden die Außenwelt durch Aktivierungen in unserem Gehirn nach. Wir schaffen ein Abbild der Wirklichkeit. Einen Schatten. Und dann interpretieren wir diesen Schatten. Aber ob die Interpretation korrekt ist, dass weiß niemand so genau. Doch was man weiß: Oft ist sie falsch. Den Beweis dafür liefern optische Täuschungen. Wir sehen etwas anderes als das, was wirklich da ist. Der Grund: Die Wirklichkeit entsteht in unserem Kopf.

Leben wir also in der Matrix?

Ich behaupte „Ja“, wir tragen sie auf unserem Hals durch die Gegend. Die Matrix ist in unserem Kopf.

Karl Potato hatte genug. Die Frage, ob es nicht doch irgendwie möglich ist, aus der Matrix auszubrechen und zu erkennen, was sich wirklich hinter all dem befindet, was man sieht, wollte er sich an diesem Morgen lieber nicht stellen. Vielleicht später. Er warf den Wecker in die Ecke und begab sich in eine andere Traumwelt.