Warum ich seit 20 Jahren nichts vergesse

Warum ich seit 20 Jahren nichts vergesse

Von der Universität waren es nur wenige Kilometer bis zum Meer. Abends sind wir oft hingefahren, haben uns in den Sand gehockt und illegale Lagerfeuer entzündet. Im Hintergrund dröhnte alternative Rock aus dem geparkten Auto. Mit Becks in der Hand haben wir über die Welt philosophiert und uns um den wertvollen Schlaf gebracht.

Die Semester zogen vorbei wie der Sandstaub am Strand. Es kam mir so vor, als würden wir schaufelweise Wissen in uns hineinkippen, aber nichts davon würde länger als ein paar Semester in unseren Köpfen bleiben. Wir lernten von Prüfung zu Prüfung und dazwischen hingen wir am Strand und vergaßen.

Irgendwann stellte sich mir die Frage, ob wir nach dem Studium überhaupt noch irgendetwas wussten.

Informationen sind Sandkörner

Es muss der Sand gewesen sein. Der, der mir ins Ohr flog und den folgenden Gedanken offenbarte:

Informationen sind wie Sand und unser Gehirn muss ein Sieb sein.

Die Zeit rüttelt mit aller Kraft an diesem Sieb. Und wenn gerade kein Goldnugget drin ist, dann bleibt am Ende eben nichts übrig. Und meistens ist halt kein Goldnugget drin.

Die Lösung, die ich für mich entdeckte war, alle Sandkörner fleißig zu sammeln. Also schrieb ich immer alles auf. Ob Literatur oder Vorlesungen, ich habe alles in Worte verwandelt. Auf kleinen Zetteln, die ich dann sorglos in Hosentaschen, Jackentaschen und Ablagen verwahrte.

Wissen ist Matsch

Ganz davon ab, dass ich am Anfang keinerlei Ablagestruktur hatte und die Informationen folglich nicht nutzen konnte, gibt es noch ein weiteres Problem: Informationen sind sinnlos!

Der Grund dafür ist ganz einfach: Informationen sind kein Wissen.

„Wer immer nur Sand sammelt, hat hinterher eine Bude voller Sand.“

kleiner Junge vom Strand

Wissen ist mehr. Wissen ist Information mit Bedeutung!

Beispiel

Nehmen wir die Information, dass sich Eltern mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsstil unberechenbar gegenüber ihren Kindern verhalten.

Das ist eine schöne Information. Aber sie ist nicht viel mehr wert als ein Haufen Sand.

Geben wir dieser Information eine Bedeutung, indem wir sie mit Essstörungen in Verbindung bringen:

Bei Menschen mit Essstörungen findet man in der Vergangenheit oft einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil. Man nimmt an, dass Betroffene glauben, die Nähe anderer erst dann verdient zu haben, wenn sie deren Erwartungen entsprechen. Das übertragen sie dann auf ihr Aussehen und damit auf ihr Essverhalten.

Gehen wir zurück zu unserer Information, dem Sand. Dann ist die Essstörung wie ein Kelch gesegnetem Wasser. Schütten wir das Wasser in den Sand, entsteht daraus Matsch.

Neues Wissen sieht meistens wie Matsch aus. Das ist auch der Grund, warum viele Menschen Angst vor neuem Wissen haben. Matsch ist aber viel nützlicher als Sand. Denn wir können den Matsch zu kleinen Bällen formen, mit denen wir dann die Leute am Strand bewerfen können. Oder wir können den Match nehmen und daraus Sandburgen bauen.

Wiederhole: Wissen ist Information mit Bedeutung!

Aus Matsch kann man Sandburgen bauen

Matsch und Wissen haben aber noch mehr Gemeinsamkeiten. So wie eine Schüppe Matsch nicht einfach in der Luft schweben kann, so kann auch Wissen nicht einfach im luftleeren Raum schweben. Wer schon mal versucht hat, eine Sandburgenbrücke zu bauen, wird festgestellt haben, dass man zunächst einen Haufen Matsch aufschütten muss und erst dann das Loch darunter graben kann. Das weiß jedes Kind am Strand.

„Ohne ein solides Fundament gibt es nur kleine, also hässliche Sandburgen.“

kleiner Junge vom Strand

Wissen steht in direktem Zusammenhang mit anderem Wissen.

Das ist der Schlüssel für das Speichern von Wissen in unserem Gehirn. Neues Wissen muss mit bestehendem Wissen erklärt werden. Wenn wir also etwas lernen wollen, dann müssen wir es in eigenen Worten zu erklären, weil nur so benutzen wir das, was schon da ist: unser bestehendes Wissen. Wir schütten Matsch auf alten Matsch. Das Loch für die Brücke bohren wir dann in der Überarbeitung unserer Notizen.

Jetzt ist es so, dass unser Gehirn zwar Sandburgen bauen kann, wenn wir aber immer nur Sand aufschütten, schaffen wir es intellektuell nie über die erste Klasse hinaus.

Wie man aus Sand, Glas macht

Wer zu tiefen Erkenntnissen kommen will, muss Synthese betreiben. Also etwas völlig neues schaffen. Wie zum Beispiel Glas. Glas besteht zum Großteil aus Quarzsand. Wird aber dieser Sand mit anderen Materialien vermischt und stark erhitzt, entsteht Glas.

Für Informationen und Wissen bedeutet das, wir müssen sie erhitzen. Der Ofen dafür ist unser Gehirn. Der Brennstoff unser Verstand. Das Geheimnis lautet: Analyse.

Analyse bedeutet, einen Sachverhalt aufzusplitten. Man zerteilt etwas in seine Bestandteile. Betrachtet dann diese Bestandteile und ihre Beziehungen zueinander und setzt hinterher alles wieder sorgfältig zusammen.

Das können wir im Kopf machen, indem wir über etwas nachdenken. Wie zum Beispiel beim Kopfrechnen. Das Problem ist nur, dass unser Zwischenspeicher nicht besonders groß ist. Oder kannst du einen Kassenbon zusammenrechnen, ohne zweimal draufzuschauen? Ich nicht. Es lohnt sich also etwas auszulagern.

Für die Analyse eignen sich Mindmaps. Denn sie machen das mit dem Wissen, was unser Gehirn braucht. Sie zerteilen und strukturieren Wissen, indem sie Bestandteile und Beziehungen verdeutlichen. Genau wie unser Gehirn. Alles, was wir wissen, wird assoziativ gespeichert. Das Wissen hängt also in irgendeiner Weise mit anderem Wissen zusammen. Bananen mit der Farbe gelb, gelb mit der Sonne, Sonne mit Hitze, Hitze mit Dachboden und so weiter. Also müssen wir die Dinge auch assoziativ aufbereiten. Ich schwöre auf Mindmaps!

Sobald wir die Informationen analysiert haben, wandern sie von ganz allein in unseren Wissensspeicher. Und die Erkenntnisse bleiben auch dort. Denn Glas sickert eben nicht durch ein Sieb.

Glaskunstwerke formen

Wer mal meditiert hat weiß, dass das Gehirn nie Ruhe gibt. Das ist gut, denn wir sollten den Ofen warm halten. Immer wieder über das Wissen nachzudenken heißt, die Gläser immer wieder zu schmelzen. Das hält sie formbar und irgendwann können wir sie zusammengießen und zu neuen Kunstwerken formen.

Mit der Zeit entstehen in unserem Gehirn immer prachtvollere Kunstwerke. Einige werden zu Nobelpreisen, andere zu Ideen und wieder andere machen einfach nur glücklich.

Es entsteht Erkenntnis.

Vom Kunstwerk zum Sandkorn

Kunstwerke sind großartig, aber manchmal wollen wir uns auch noch an jedes einzelne Sandkorn erinnern. Ich spreche von Literaturnotizen, Zetteln, Mitschriften. In Prüfungssituationen, in der Wissenschaft oder wenn wir es selbst wiederverwenden wollen. Für diesen Fall sollte man die Sandkörner gut aufbewahren. Und zwar dort, wo man sie auch wiederfindet.

Denn auch wenn das Glas im Sieb bleibt, sickert der Sand immer noch unaufhaltsam hindurch.

Wie man Sandkörner und Sandburgen speichert

Generationen von Forschern haben deshalb ausgefeilte Systeme entwickelt, um die Sandkörner so abzuspeichern, dass man sie wiederfindet und vor allem wiederverwenden kann.

Das einfachste System sind Papierzettel. Man schreibt einfach etwas auf den Zettel und schmeißt ihn auf irgendeine Ablage. Wie gesagt, so habe ich es die ersten Jahre gehalten. Diese Vorgehensweise kann ich nicht empfehlen!

Besser ist es, Literaturverwaltungsprogramme zu verwenden.

Wer eine solche Software im Studium einsetzt, wird umgehend den Sprung von mittelmäßigen Noten auf gute Noten bemerken.

Literaturverwaltungsprogramme helfen dabei, Informationen so zu sammeln, dass man sie mit korrektem Quellenverweis wiederverwenden kann.

Dann sind da noch Wikis. So etwas wie Wikipedia nur für den privaten Gebrauch.

Jeder kann sich heute ein schnelles und einfaches Wiki aufbauen. Und damit sein Wissen bzw. seine Informationen in einer strukturierten Form abspeichern.

Mit diesen Systemen kann man aber meist nur die Körner, nicht die Sandburgen speichern. Wollen wir Argumente und Gedanken speichern, Rezepte für Glaskunstwerke, dann brauchen wir ein ausgefeilteres System.

Die Denkmaschine

Halt, halt, halt! Ich spreche hier nicht von künstlichen Hyperintelligenzen. Ehrlich gesagt, spreche ich hier von einem System, das von einem Soziologen im letzten Jahrtausend erfunden wurde. Im Jahr 1952. Das System trägt den Namen „Luhmanns Zettelkasten“. Obwohl es ein großartiges System ist, gibt es leider immer noch so viele Menschen, die diesen Kasten nicht kennen.

Der Kasten ist die Denkmaschine von Niklas Luhmann, der in einer solch hohen Frequenz publizierte, dass man dachte, er würde irgendwie cheaten.

Und doch sieht der Kasten äußerst unscheinbar aus. Er ist nichts anderes als eine Sammlung von Papierzetteln.

Im Grunde gibt es zwei Arten von Zetteln im Zettelkasten:

  1. Literaturnotizen
  2. Gedanken

Jeder Zettel beinhaltet genau einen Gedanken sowie eine kryptische Nummer, die es in sich hat. Diese kryptische Nummer ist die einzigartige Kennung der Zettel. Jeder Zettel hat seine ganz eigene Nummer. Dadurch konnte Luhmann Verweise von einem Zettel auf einen anderen Zettel erstellen. Ja, richtig! Er hat Hyperlinks per Hand erstellt!

Insgesamt sind in Luhmanns Zettelkasten ca. 90.000 Zettel. Ein wirklich strebsames Bienchen.

Die Denkmaschine im 21 Jahrhundert

Auch wenn das Schreiben von Zetteln per Hand Vorteile hat – man schreibt vermutlich langsamer und konzentrierter – haben die Erfindungen in den letzten Jahren doch so einige Verbesserung angekarrt.

Tools wie Roam-Research oder Obsidian stellen uns Möglichkeiten bereit, vor denen Luhmann nur ehrfürchtig gezittert hätte.

Ich bin ein absoluter Fan von Roam-Research und habe die letzten zwei Jahre viel Zeit damit verbracht, meinen ganzen Zettel-Wirrwarr mithilfe der Idee von Luhmanns Zettelkasten zu digitalisieren. Doch bevor irgendetwas in meinen Zettelkasten kommt, wird es analysiert. Ich analysiere alles, was ich lernen will und versuche es so gut wie möglich zu verstehen. Dabei erstelle ich fast immer Mindmaps. Ausnahmen sind leicht verdauliche Themen wie der meiste Youtube-Content. Anschließend importiere ich diese Mindmaps in meinen Zettelkasten als Literaturnotizen. Dazu gehören auch Mitschriften von Youtube-Videos oder Blog-Artikeln.

Nachgelagert und manchmal auch gleichzeitig erstelle ich Zettel in meinen digitalen Zettelkasten. Sie beinhalten eigene Gedanken, Fragen und Einsichten. Diese Gedanken verbinde ich mit bereits bestehenden Gedanken. Auch alte Gedanken werden durch neue Erkenntnisse immer wieder überdacht oder poliert.

Wichtig ist, pro Zettel nur EINEN EINZIGEN Gedanken zu formulieren. Verbindungen jedoch kann es beliebig viele geben. Zitate und Ideen anderer, die die Argumentation stützen oder dem Gedanken Futter geben, verlinke ich auf dem Zettel.

Beispielzettel: „Bestrafung führt zu Unterdrückung von unerwünschtem Verhalten statt zu Veränderung“

Titel des Zettels: „Bestrafung führt zu Unterdrückung von unerwünschtem Verhalten statt zu Veränderung“

Inhalt:

„Das unerwünschte Verhalten wird nur unterdrückt, statt verändert.

[[Beispiel]] – Wenn man dem Kind sagt es soll nicht lästern, weil es sonst Fernsehverbot bekommt, dann wird es dieses Verhalten unterdrücken. Wenn aber die bestrafende Person nicht mehr da ist, wird es wieder lästern.

Verbindung zu anderen Zetteln:

  • [[Konditionierung führt in der Erziehung selten zum Ziel, weil wir eben doch keine Ratten sind, sondern kreative Wesen mit komplexen Denkmechanismen]]
  • [[Wird das Kind aggressiv bestraft, lernt es Aggressivität als eine Möglichkeit zur Problemlösung]]
  • [[operante Konditionierung]]
  • [[Folgen von Bestrafung in der Kindererziehung MOC]]“

Förmchen und den Ofen am Laufen halten

Der letzte Eintrag in den Verbindungen „Folgen von Bestrafung in der Kindererziehung MOC“ ist eine besondere Art von Zettel. MOCs (Map of contents) sind wie ein Index. Sie sind eine Auflistung von Zetteln zu einem bestimmten Thema und dienen dazu, einen schnellen Einstieg in das Thema zu bekommen, aber auch um Lücken in Themen zu finden. Sie sind extrem hilfreich, um Blog-Artikel wie diesen hier zu schreiben.

Zu guter Letzt habe ich mir angewöhnt, jeden Tag 15 Minuten lang den digitalen Zettelkasten aufzuräumen. Dabei versuche ich neue Verbindungen zu finden, neue Erkenntnisse einzupflegen und Gedankenduplikate zu vereinheitlichen. Auf diesem Weg bleiben die Sandkörner und Sandburgen verfügbar. Das Wissen bleibt aktuell und vor allem flexibel. Und mit etwas Glück entstehen daraus vielleicht irgendwann kleine Glaskunstwerke.